Frühe Landkarten zeigen, wie man sich vor dem Fluss zu schützen versuchte: mit Faschinen, mit Dämmen, man verschloß Seitenarme oder durchschaufelte/blockierte einzelne Rheinarm-Schlingen. Jede Gemeinde operierte bei ihrem Rhein-Zähmungs-Programm mehr oder minder für sich allein, und meist nach dem St.-Florians-Prinzip.
Im 19. Jahrhundert wurde alles anders. Der Rhein wurde ´korrigiert´ und ´rectifiziert´.
“Kein Strom oder Fluß, also auch nicht der Rhein, hat mehr als ein Flußbett nötig, oder welches einerlei ist, kein Strom oder Fluß hat in der Regel mehrere Arme nötig.”
Johann Gottfried Tulla, 1812
Die Rheinkorrektur
Vorhang auf für Johann Gottfried Tulla. 1770 geboren, Ingenieur und Wasserbauspezialist. 1809 hatte er einen ersten Plan entwickelt, wie das Strombett geradegelegt und eingeengt werden könnte - um den Rhein zur Tiefenerosion zu zwingen, den Wasserspiegel zu senken, Land zu gewinnen und Hochwasser zu entschärfen. 1812 ist soweit: in Straßburg unterzeichnen der französisch-napoleonische Magistrat du Rhin und Monsieur Tulla, Ingenieur en Chef du grand-Duché die Vereinbarung zum Beginn der Rheinkorrekturmaßnahmen.
Begonnen hat man die Arbeiten 1817 in Knielingen, abgeschlossen 1876 in Istein. In fast 60 Jahren Bauzeit hatte man den Fluss begradigt, in ein einziges Bett gezwungen, ihn auf 200-300m verschmälert, das Flussbett abgesenkt. Begleitend wurden Vermögen in Uferverbauungen gesteckt.
Selbstredend gab es Zank und Streit. Die Dörfler leisteten Widerstand! Um die Knielinger in die Knie zu zwingen, braucht es Waffengewalt; das Militär greift ein. Was wird passieren - werden Hochwasser schlimmer als bisher, werden bislang sichere Gegenden überschwemmt? Der Rhein mit seinen Gefahren näher dran am Ort. Oder aber das Dorf, die Stadt jetzt völlig abgeschnitten vom Rhein. Verlust von Fischgründen, Verlust von bestem Ackerland - die Menschen am Rhein hatten allen Grund zur Sorge! Beim Durchstechen jeder Fluss-Schlinge fiel ein Streifen von ± 300m der Schaufel zum Opfer, und bis 1815 wäre überdies aller linksrheinisch neu geschaffener Boden an Frankreich gefallen.
Auch aus PR-Gründen entschädigte man bis 1825 relativ großzügig. Ab 1826 gab es deutlich weniger Geld, 1835 hatte Baden ein Enteignungsgesetz. Die Akzeptanz bei den südbadischen Dörflern war höher: als die Bautrupps hier begannen, fiel neu gewonnenes Land automatisch den Uferanliegern zu. Zwischenzeitlich war viel passiert: Koalitionskriege, Napoleonische Kriege, Befreiungskriege, und 1870/71 der deutsch-französische Krieg. Hoheitsgrenzen waren mehrfach neu gezogen - schlechte Voraussetzungen für ein multinationales Jahrhundertwerk.
Zank und Streit gingen nach 1876 weiter. Schiffbarkeit war inzwischen wichtiger als die Gewinnung von Land, erste Wasserkraftwerke entstanden.
Der Rheinausbau schritt voran: 1913 konnten Großschiffe erstmalig auch bei Niedrigwasser Straßburg anlaufen, seit 1904 bei günstigem Wasserstand sogar Basel. Weltkrieg Nr. 1 - Versailler Vertrag. Frankreich erhält das Recht auf totale Nutzung des Rheinwassers, fortan wird es in großen Mengen zur Speisung von Kanälen und zur Stromerzeugung abgezweigt. 1925 schritt man zur Tat und begann mit dem Bau des Kraftwerks Kembs. Der Rheinseitenkanal wurde 1928 begonnen, aber erst - Weltkrieg Nr. 2 - 1959 beendet, als Grand Canal d´Alsace mit insgesamt vier Staustufen zwischen Kembs und Breisach. Der Rheinausbau von Süd nach Nord erreichte 1977 Iffezheim.
Ziemlich genau 30 Jahre später startete die nächste Ausbau-Runde: das integrierte Rheinprogramm. Hochwasser-Rückhalte-Zonen, ausgebaggert aus dem Kies, entlasten die Rheinanlieger stromab. Außerdem entsteht eine neue Auenvegetation, gespeist aus dem nur langsam abfließenden Hochwasser.
Der Rhein nach der Korrektur
Die Rheinkorrektur verkürzte den Lauf des Rhein zwischen Basel und Bingen um 81km. Gleichzeitig wuchs sein Gefälle und seine Fließgeschwindigkeit. Tiefenerosion setzte ein - mit dramatischen Folgen. Zwischen Neuenburg und Basel grub sich das Flussbett im Durchschnitt 6 bis 8m tiefer in den Untergrund, und nach Inbetriebnahme des Grand Canal d´Alsace sank es nochmals um 2-3m.
1828 - im Sterbejahr Tullas - lagen die Felsen der Isteiner Schwellen 4m unter Wasser.
Das aberodierte Geschiebe des südlichen Oberrheins blieb und bleibt in flacheren Streckenabschnitten liegen. Hier kommt es leicht zu einer Stauwirkung, und die Gefahr plötzlicher Hochwasser nimmt zu. Die Hochwassergefahr verlagerte sich flussabwärts.
Tiefenerosion und die Ableitung eines Großteils des Wassers in den Rheinseitenkanal haben den Grundwasservorrat des südlichen Oberrheingebietes (so heißt es 1992) um 3 Milliarden m³ verringert. Vor Tulla be-wässerte der Rhein die Rheinebene - heute drainiert und ent-wässert er sie. Die verbliebenen Rest-Auen und Altarme werden nur noch selten geflutet.
Die Trockenlegung der Rheinauen brachte den Dörfern am südlichen Oberrhein Landgewinn. Istein erhielt zwischen 1853 und 1861 eine Fläche von 8ha dazu, bis 1890 wandelte man 36ha ehemaliges Wiesen- und Waldland in Acker um. Das sinkende Grundwasser machte aber ab 1870 den Dörfern zwischen Neuenburg und Istein sowie ab 1934 denen zwischen Istein und Basel zu schaffen: die Altrheinarme trockneten aus, Quellen versiegten, Bäume verdorrten. Nach dem Bau des Grand Canal d´Alsace kam es noch schlimmer: ganze Stammobstkulturen starben ab, künstliche Beregnung musste nun das fehlende Grundwasser ersetzen. Aus alter Flusslandschaft wurde ein Trockengebiet.
Istein und Kleinkems waren vor der Rectification Fischer- und Lotsendörfer. Wer den Rhein zwischen Basel und Neuenburg befahren wollte, war auf ortskundige Hilfe angewiesen; nach der Rheinkorrektur brauchte man keine Lotsen mehr. Man brauchte - besonders nach dem Bau des Kanals - auch keine Fischer mehr. Der sinkende Grundwasserstand brachte das Aus für viele Fischarten, Laichplätze wurden geschädigt, auch die höhere Abflussgeschwindigkeit wirkte sich negativ auf die Fischbestände aus. Dazu kamen Kraftwerksturbinen, fehlende Fischtreppen, sinkende Wasserqualität. Und 1986 ein verheerender Giftunfall.
Viele Fischer verdingten sich bei den Rhein-Korrektur-Arbeitern als Tagelöhner. Bis zu 3000 Mann waren auf den Großbaustellen im Einsatz.
Heute sieht es hier wieder etwas besser aus. Die Wasserqualität ist besser, Jungfische werden eingesetzt, Fischtreppen gebaut.
(Text: Museum in der ‘Alten Schule’ / Dr. Maren Siegmann / 2024)