Ein noch junger Lindenbaum, und auf der anderen Straßenseite Neubauten und Grünfläche. Dort stand bis 1940 das Gasthaus "Zur Linde", bis ca. 1910 eine jüdische Gastwirtschaft.
Jüdische Handelsreisende des 19., 18., 17. Jahrhunderts waren oft lange unterwegs - ein paar Tage, die ganze Woche (nur am Sabbat daheim bei der eigenen Familie), oder länger. Die Speisevorschriften waren streng (sie sind es noch), entsprechende Mahlzeiten waren in christlichen Gaststätten nicht zu bekommen. Sich mit Essen und Trinken für die gesamte Tour zu bevorraten, oder vorab Lebensmittel und Geschirr bei vertrauenswürdigen Leuten einlagern - das war durchaus üblich. Man beginnt zu ahnen, WIE wichtig jüdische Gastwirtschaften waren.
Die (bislang) früheste Nennung einer jüdischen Gastwirtschaft in Kirchen stammt aus dem Jahr 1816. Akten zu Herz Bloch aus Kirchen, Sohn des dortigen Judenwirts. Der Vater ist schon länger verstorben (wohl seit ca. 1810), seitdem führt seine Witwe mit mehreren Töchtern den Betrieb. Witwe und Töchter sind notleidend, und Sohn Herz liegt ihnen auf der Tasche. Ein Tagedieb, ein Taugenichts, ein Bösewicht. 1816 plant Herz einen Straßenraub - sein Opfer ist Baruch Kahn, ein reisender Handelsjude aus Baisingen (Rottenburg/Neckar), der schon mehrfach Gast im Wirtshaus der Eltern war. Kahn erliegt nach einigen Tagen den schweren Verletzungen, und Herz Bloch wird wegen Raubmordes in Lörrach geköpft.
Bis 1828 war Aaron Dreifuß Judenwirt in Kirchen (wir erfahren von ihm, weil sein Nachlaß 1828 öffentlich versteigert werden soll). Wohl nach Dreifuß ist dann Samuel Lieberles jüdischer Wirt in Kirchen.
Arme Leute, Bettler, Entwurzelte und (ja, auch das) Kriminelle. Im 18. und frühen 19. Jh. müssen sie regelrecht das Straßenbild geprägt haben - zu Tausenden und Abertausenden waren sie unterwegs. Selbstredend waren auch jüdische Arme, jüdische Bettler, jüdische Gauner unterwegs, und selbstredend kamen sie auch durch Kirchen. Etwas zu essen, und über Nacht ein Dach über dem Kopf - dafür sorgte normalerweise die örtliche jüdische Gemeinde. Der-Reihe-nach oder per Losverfahren hat man diese Gäste an die jüdischen Haushalte verteilt, und/oder man nutzte gemeindeeigene Räumlichkeiten, und/oder der Vorsinger der Gemeinde beherbergte sie. Um 1820 war in Kirchen anscheinend letzteres üblich. "Verzeichnis mehrerer jüdischer Gaunerherbergen" nennt sich ein Verzeichnis von 1823, und die Nr. 123 nennt "Kirchheim bey Basel. 1te beym Vorsänger. 2te bey einem Christen. Hat die eigentliche Herberge, und wohnt am Ende des Dorfes." Als Vorsänger kennen wir im frühen 19. Jahrhundert Samuel Ruf, Abraham Schwab und Tias Lieberles.
Wo Judenwirt Bloch, Witwe Bloch und Aaron Dreifuß gewirtet haben - wir wissen es nicht.
Die "Linde" ist jüdische Wirtschaft im späteren 19. Jahrhundert, und geht irgendwann vor 1911 in christliche Hand über (Wirt ist nun Hermann Flösser aus Eimeldingen).
Alle Fotos der "Linde" stammen aus der Zeit nach 1911.
(Text: Museum in der ‘Alten Schule’ / Dr. Maren Siegmann / 2024)