Der “Anker”, Metzgerei um die Ecke, dazwischen (bis 1945) das jüdische Schachthaus.
Ein guter Standort für die Themen Jüdische Metzgerei und jüdischer Viehhandel.
Am 29. Juli 1848 wählen erst drei Kirchener Gastwirte (Heinrich Wittich, Samuel Lieberles, Bartlin Rottra), danach drei Kirchener Metzger (Bartlin Rottra, Samuel Bloch, Friedrich Rottra) einen Geschäftsführer. In beiden Fällen gewinnt Bartlin Rottra, Metzger und Wirt des Gasthauses zum "Anker". Wirte, die selber metzgen; Metzger, die auch wirten. Eine sinnvolle Kombination.
Samuel Bloch metzgt (schächtet) für die jüdische Gemeinde, das Schächthaus liegt neben der Synagoge. Hier gelten zahlreiche religiöse Regeln, damit das Fleisch koscher und ´für den Verzehr geeignet´ ist. Selbst wenn nichts schief geht - das hintere Ende des Tieres scheidet für die jüdische Küche aus, und landet auf dem Verkaufstresen. Das ist schon im Mittelalter so, und deshalb gibt es seit dem Mittelalter einen unentwegtes Gerangel zwischen den jüdischen Schächtern und den christlichen Metzgern. Der Fleischbedarf der jüdischen Familien auf der einen Seite; unerwünschte Konkurrenz, Gefahr von Dumpingpreisen auf der anderen ... Die jüdischen Schächter stehen außerhalb der Zünfte: als Juden können und dürfen sie dort nicht Mitglied sein. Sie müssen auch keine entsprechende Prüfung ablegen - mancherorts darf jeder jüdische Haushaltsvorstand für den eigenen Hausgebrauch selber schächten. Für Sulzburg, Badenweiler und Müllheim z.B. ändert sich dies erst 1823.
Viehhandel. In Kriegszeiten die Versorgung der verschiedenen Truppen mit Pferden. Und mit Schlachtochsen. Schlachtvieh ist auch in Friedenszeiten nachgefragt. Besonders wichtig - und heutzutage gerne vergessen - die Multifunktions-Nutz-Kuh. Die den Pflug zieht, die Egge zieht, den Wagen zieht. Die im Frühjahr ein Kalb bekommt und danach Milch gibt. Und, ganz wichtig: die den Dünger produziert, der Äcker und Rebenflächen fruchtbar hält. Wobei hierzulande das Hinterwälder Rind üblich war, eine alte Haustierrasse, klein und genügsam. Eine erhaltenswerte Rasse, leider vom Aussterben bedroht.
Nutzkuh + Pleitegeier
Kaum ein bäuerlicher Betrieb des 17., 18., frühen 19. Jahrhunderts kann eine Kuh bar bezahlen. Auch 1848 nicht: seit 1618 Kriege, Hungersnöte, Katastrophen in dichter Folge, mit nur wenigen besseren Jahren dazwischen. Massenentlassungen und die Schließung der meisten Fabriken wirken sich katastrophal aus - das Wiesental und die Region um Mulhouse waren Industrieregionen, man produzierte hier vor allem Luxuswaren. Die sich jetzt niemand mehr leisten kann (und will). 1845 dann die Kartoffelfäule, die Lebensmittelpreise schießen durch die Decke.
Der Pleitegeier kreist, eigentlich über jedem einzelnen Bauernhof. Die Nutz-Kuh auf Kredit, auf Ratenzahlung. Verschiedenste Leasing-Kuh-Modelle, Kuh-Leihe auf Zeit. Wenn der Bauer dann die Raten für die Kuh nicht mehr zahlen kann, muß der Viehhändler klagen - oder auf das ausstehende Geld verzichten. Klagt der Viehhändler, folgt oft genug der wirtschaftliche Zusammenbruch - Insolvenz und Zwangsversteigerungen sind an der Tagesordnung. Die verschiedenen badischen Provinzial-Blätter sind gesteckt voll damit. Zahlen zu viele Kuh-Käufer nicht, greift sich der Pleitegeier den Viehhändler.
Nutzkuh abgestottert, geleast, geliehen - davon haben christliche Viehhändler möglichst die Finger gelassen. Und dieses Geschäftsfeld ihren jüdischen Kollegen überlassen. Viele, sehr viele jüdische Familien leben im Markgräflerland und im Elsass vom Viehhandel - vom Pferdehandel, vom Handel mit Schlachtvieh, vom Handel mit Nutz-Kuh oder Ziege.
Nun ist Vieh keine Ware, die man in einen Sack tun und in einem Schuppen lagern kann. Vieh muß essen und trinken. Ergo, ein Viehhändler braucht Weideflächen, braucht Zugang zu (sauberem) Wasser. Weideflächen sind aber eine kostbare dörfliche Ressource - gemeindeeigene Weideflächen dürfen nur von Bürgern ´1. Klasse´ genutzt werden. Alle christlichen Einwohner mit vollem Bürgerrecht. Nur diese haben ebenfalls Anspruch auf Holz aus den gemeindeeigenen Waldungen und auf die kostenfreie Nutzung von Gartenland.
Die jüdischen Einwohner haben darauf kein Anrecht. Jeweils eine Kuh und ein Pferd darf jeder jüdische Haushalt in Kirchen weiden lassen, und das ausschließlich und nur am Straßenrand. Nur selten gelingt es den jüdischen Viehhändlern, Weideland zu pachten - es wird sowieso immer weniger, die Gemeinde Kirchen z. B. hat zwischen 1740 und 1785 fast ein Drittel ihrer Wiesen in Ackerland umgewandelt ... Den Viehhändlern bleibt also nur, ihre Handelsware irgendwie irgendwo meist illegal fressen zu lassen. Ärger ist vorprogrammiert. Viehhändler haben natürlich immer andere Tiere dabei, und oft genug armselig anzuschauen (welcher Bauer verkauft schon das beste Vieh im Stall?). Die Sorge der Bauern, so eine Viehseuche in das Dorf zu bekommen, war durchaus begründet.
Und so möchten die meisten Ortschaften die jüdischen Viehhändler (am liebsten gleich alle Juden) wieder los werden. Das Dorf Kirchen hat dies im 18. Jh. mehrfach versucht.
Krise, Streit + Feindbild
In Kriegs-/Katastrophen-/Krisenzeiten eskaliert der Streit. Unvermeidlich, unabwendbar, alternativlos. Werden Lebensmittel unbezahlbar und Heizmaterial zum Luxusgut, MUSS der jüdische Händler versuchen, möglichst viele Schulden einzutreiben. Die jüdische Familie MUSS vieles kaufen, was die christliche Familie kostenlos bekommt oder zumindest selber produzieren kann; das Leben der jüdischen Familie hängt am Marktpreis. Genau zu solchen Zeiten Schulden einzutreiben führt (selbstredend) zum Bankrott der Schuldner, zur Zwangsversteigerung von Hab und Gut bäuerlicher Betriebe, zum wirtschaftlichen Aus. Und gibt der sowieso reichlich vorhandenen Judenfeindlichkeit neuen Auftrieb.
Der böse jüdische Geldverleiher, der Wucherer, der den ehrlich arbeitende Christenmenschen in den Ruin treibt ... Dass es genau dieser jüdische Geldverleiher war, der einem Bauern weit jenseits aller Kreditwürdigkeit überhaupt erst ermöglicht hat, seinen Acker zu bestellen, oder Saatgut zu kaufen, wird in den zeitgenössischen Hasstiraden unterschlagen.
Überhaupt, Wucher: der gesetzliche Zinssatz für jüdische Geldleihe liegt 1848 bei 5% (!). Liest man die Hasstiraden genauer, zeigt sich, was im 18. und frühen 19. Jh. so alles als Wucher gilt (wenn es Juden tun): höherer Gesamtpreis bei Ratenzahlung, zum Beispiel. Oder wenn der Verkaufspreis höher liegt als der eigene Einkaufspreis. Wenn der Hausierer/die Hausiererin am Hoftor die hübschen Dinge zeigt, die zum Kauf verlocken. Oder wenn die Dinge, an die Haustür gebracht, teurer sind, als in der Stadt beim Produzenten gekauft. Oder wenn die Dinge deutlich billiger sind, als beim christlichen Mitbewerber-am-Markt ... Für alles dies haben wir heute andere Wörter - Werbung, Marketing, Gewinnspanne, Lieferkosten, Sonderangebot. "Wucher" ist in dieser Zeit kein Tatbestand, sondern ein flexibel einsetzbarer anti-jüdischer Propaganda-Begriff.
1848. Elsass + Baden
Die Juden sind schuld. Im Frühjahr 1848 eskaliert (mal wieder) die anti-jüdische Gewalt, mal wieder gibt man den Juden pauschal die Schuld an allen wirtschaftlichen Nöten.
Im Elsass bricht am 26. Februar, und in Baden Anfang März, die Staatsgewalt zeitweilig zusammen. Wenn dies passiert, fürchten jüdische Familien um ihr Leben. Im Elsass fallen Trupps von mehreren Tausend Gewalttätern über jüdische Gemeinden, jüdische Häuser, jüdischen Besitz her. Glücklich, wer nahe der Schweizer Grenze lebt - hier gelingt es den meisten Familien, die Eltern, die Kinder, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Ihr Besitz wird geraubt, ihre Häuser zerstört und unbewohnbar gemacht, ihre Gärten und Obstwiesen verwüstet. Basel gewährt Asyl bis Ende Juli 1848, danach müssen die aus dem Elsass vertriebenen Juden in ihre Heimatorte zurück. Und stehen dort vor dem Nichts - eine Massenauswanderung in die USA und in die Schweiz ist die Folge.
In Baden ist die Situation noch schwieriger als im Elsass. Hier hat man 1833 mit der Ablösung der mittelalterlichen Zinse begonnen. Zahlt man den Zins für 20 Jahre auf einen Schlag, ist man diese Verpflichtung los. Für alle Zeiten. Bloß: wer kann das schon? Kaum jemand, die Bauern brauchen Kredite. Das geborgte Geld fließt ab - in die Taschen der ehemaligen Herren bzw. deren Rechtsnachfolger. Mit verheerender Folge: auf dem Land gibt es fast kein Bargeld mehr. Ende Februar kommt die Nachricht von der Revolution in Frankreich auch in Baden an, revolutionäre Stimmung nun auch hier. Und, unglückseliges timing: am 2. März nimmt die 2. Kammer der Landstände einen Gesetzentwurf an, der die völlige Gleichstellung (politisch UND bürgerlich) der jüdischen badischen Bevölkerung vorsieht. Das steht am 3. März in ganz Baden in der Zeitung. Und sofort braust ein Sturm der Entrüstung durch ganz Baden. Dass es nach Annahme des Gesetzes durch die 1. Kammer jüdische Gemeinderäte geben könnte, ist den meisten Badener völlig schnurz. Aber: dass in Zukunft jüdische Familien Anrecht an der Gemeinde-Weide, dem Bürger-Holz, den Gemeinde-Bündten haben sollen - Skandal!
Anti-jüdische Gewalt-Ausbrüche folgen nun auch in Baden. Mindestens 34 Orte waren betroffen, darunter Müllheim, Hertingen/Schliengen, Emmendingen. Die Ausschreitungen richten sich aber auch gegen Amtshäuser, Amtspersonen; jeden/jedes, der/die/das irgendetwas mit Hypotheken, Schulden, Steuern, Zoll zu tun hat. Besonderer Gewalt-Hot-Spot war der Odenwald; sehr eindrücklich der Bericht des einschreitenden Militärs über die Gewaltexzesse gegen die jüdische Bevölkerung von Heidelsheim. Die 1. Kammer der Landstände lässt den Gesetzentwurf in einer Schublade verschwinden. Der badische Staat wird erst ab 8. März aktiv: die Grenzen nach Frankreich werden geschlossen (gegen Plünderer ebenso wie gegen fliehende Juden oder ehemalige Fabrikarbeiter). Die Gemeinde werden aufgefordert, Bürgerwehren zu bilden. Am 11. März verkündet das Oberamt Lörrach stolz: alle jüdischen Flüchtlinge aus dem Elsass sind dorthin zurückgekehrt. Freiwillig wird dies nicht geschehen sein; man hat sie wohl aus Baden ausgeschafft.
Elf Tage später - am 22. März - haben Tausende von Franzosen den Rhein überschritten und ziehen jetzt plündernd und brandschatzend durch Baden. So lautet die Schreckensmeldung, allüberall wird Alarm geläutet, Bürger bewaffnen sich, Bauern fliehen in die Berge. Am 25. März wird klar: alles nur Gerücht, stimmt nicht. Zeitgleich und gleichzeitig, im Elsass: Tausende von Deutschen wollen den Rhein überschreiten und die Monarchie wieder herstellen. Alarm wird geläutet, Bürger bewaffnen sich, Bauern fliehen in die Berge. Auch hier: alles nur Gerücht.
Am 24. April landen tatsächlich Bewaffnete aus Frankreich in Baden: die Herwegh´s und die Französische Legion erklimmen bei Kleinkems das badische Ufer und ziehen gen Blansingen.
Da ist aber die Schlacht auf der Scheideck schon verloren und Friedrich Hecker besiegt.
In Südbaden, im Elsass, im Odenwald standen 1848 weite Teile der Bevölkerung vor dem wirtschaftlichen Aus. Die realen ´Schuldigen´ an der Misere - die ökonomischen und politischen Zusammenhänge - waren für die Leute undurchschaubar, alle Seiten waren unentrinnbare darin verheddert. Existenzangst befördert den Hass, und das Feindbild des Bösen Jüdischen Wucherers ist ebenso alt wie simpel wie ´bewährt´.
Jeder Mob - egal wo - sucht zuerst nach Schuldurkunden. Hypotheken, Kredite, ausstehende Steuern. Ist das Papier verbrannt, ist man die Schulden los. Erst danach wird geplündert.
Keine öffentliche Ordnung mehr, der Staat ist machtlos, die Täter können nur gewinnen, die Tat bleibt für die Täter folgenlos: das war ist und bleibt bester Nährboden für Gewaltexzesse. Das wäre heute nicht anders als 1848, 1830, 1819, 1789, 1777 oder 1614 (um nur einige Beispiele zu nennen).
Nur aus zwei südbadischen Orten mit bedeutender jüdischer Gemeinde gibt es im März 1848 keine Nachricht über anti-jüdische Gewalt.
Lörrach und Kirchen, Gem. Efringen-Kirchen.
Eisenbahn + Viehmarkt
1848 ist in Efringen die Endstation der Badischen Staatsbahn. Noch wenige Jahre, und die Eisenbahn wird Karlsruhe mit Basel verbinden (1855). Die französische Eisenbahn linksrheinisch, die badische Eisenbahn rechtsrheinisch, die Schweizer Bahnstrecken und die Bahnstrecken am Hochrhein werden in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts den (Schlacht-)Vieh-Handel revolutionieren. Bahn-Anschluß und Basel-Nähe, und ab 1864 eigene Viehmärkte in Kirchen und in Efringen: der regionale Viehhandel boomt. Noch, Viehwaggons werden demnächst die Transportwege für lebendige Tiere immer länger werden lassen.
1862 macht die 1. Kammer der Landstände die noch unerledigten Punkte aus dem Gesetzentwurf von 1848 zu geltendem Recht: jetzt endlich sind die Juden den Christen in allen Bereichen gleichgestellt. Juden dürfen nun ihren Wohnort selbst bestimmen. Viele junge Leute und Familien verlassen die Dörfer und zügeln in die Stadt. Die jüdischen Landgemeinden schrumpfen. 1903 gibt es in Kirchen noch 31 jüdische Haushalte, von diesen handeln 14 mit Vieh. Mit Zugvieh. Schlachtvieh oder Pferde verkauft niemand mehr. Ähnlich ist es in Müllheim (88 Haushalte, 25 handeln mit Zugvieh und 1 mit Pferden), in Sulzburg und Emmendingen.
Baden 1903: 133 Fragebögen an jüdische Landgemeinden verschickt, 93 Antworten, 450 Viehhändler, 59 Metzger.
(Text: Museum in der ‘Alten Schule’ / Dr. Maren Siegmann / 2024)