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Kirchen - Basler Strasse 45 / jüdisches Gemeindezentrum bis 1789

Kirchen 1899
Die Postkarte wurde 1899 verschickt. Überraschend das Kleingedruckte: "Lithographirt von E. Bloch, Kirchen". Der Lithograph / die Lithographin gehörte der jüdischen Gemeinde an; seinen/ihren vollständigen Namen kennen wir nicht. Museum in der ‘Alten Schule’, Inv.-Nr. 1991/0999.
Sondersteuer 1757
Für den Genuß von Trinkwasser ist Wein an die Gemeinde Kirchen abzuliefern. Allerdings nur von jüdischen Haushaltsvorständen. Gemeinde-Rechnung 1757 (für 1756). Gemeindearchiv Efringen-Kirchen, Kirchen IV.3 - 007b, Heft 2, fol. 023r.
Jüdische Einwohner 1797
Tabelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe 74 Nr. 3704 (Blatt 140) / 1797. Permalink: http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=4-4651626. Veröffentlichungs- + Vervielfältigungsrechte: Landesarchiv B-W.
Jüdische Männer 1819
"Verzeichniß der diejenigen Bürger, welche zur Huldigung gehören (Verheuratheten, Ledige, Judenschaft)" von 1819. Gemeindearchiv Efringen-Kirchen, Kirchen XIII.3 - 001.
Gefallene 1870/71
Der Gedenkstein für die Gefallenen des Krieges 1870/71 nennt auch die Namen der jüdischen Kirchener. Foto: Museum in der ‘Alten Schule’ / Maren Siegmann.
Religionslehrer 1875-78
Wieviele Lehrer für den "israelitischen" Religionsunterricht werden gebraucht? Hier die Aufstellung für die Schuljahre 1875/76 bis 1877/78. Gemeindearchiv Efringen-Kirchen, Kirchen VI.2 - 04.
Kirchen um 1890
Zahlen auf dem Dach kennzeichnen die "jüdischen" Häuser des Ortes Kirchen um 1890. Alle Häuser ohne rotes Dach wurden im 2. Weltkrieg zerstört. Modell: Museum in der "Alten Schule" Efringen-Kirchen. Foto: Museum in der ‘Alten Schule’ / Maren Siegmann.
Erfassung der Juden 1946
Gemeindearchiv Efringen-Kirchen, Kirchen VI.1 - 033.

Beschreibung

Basler Strasse 45: hier hat im 18. Jahrhundert Julius Bloch gewohnt. Bis mindestens 1789 war das Haus jüdisches Gemeindezentrum - hier fanden die gemeinschaftlichen Versammlungen und die Gottesdienste der in Kirchen ansässigen jüdischen Bevölkerung statt. 


Die jüdische Gemeinde von Kirchen

Mit zwei Haushalten fing alles an: die jüdische Gemeinde in Kirchen. Spätestens im Jahr 1736 leben sie in Kirchen. Zwei Jahre später - im Frühjahr 1738 - sind es vier, 1756 (bis 1778) dann 5 jüdische Haushalte im Dorf. Fast 40 Personen, so jammern die (christlichen) Kirchener 1765.

Begonnen hat die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Kirchen woanders, in Dorneck-Dorf (Dornach), Solothurn. Dort hat sich Leibel/Leubel Bloch gegen Schikanen zur Wehr gesetzt, und wird 1730 prompt ausgewiesen. In Solothurn fängt man das Diskutieren an. Anfang 1736 wird es ernst - auch die anderen jüdischen Einwohner sollen verschwinden. Stichtag ist der 1. August 1736, bis dahin müssen die 9 Familien Dornach mit Sack und Pack verlassen haben.

Am 31.03.1736 wird Hirz/Herz Bloch Schutzjude in Kirchen. Schutzjude heißt: Bloch hat den Antrag gestellt, sich im Markgräflerland niederlassen zu dürfen (bewilligt), er hat einen ordentlichen Batzen Geld dafür bezahlt (erledigt), und der Markgraf hat sein Okay gegeben (viele Seiten Kleingeschriebenes an Konditionen und Bedingungen). Erhalten hat sich dieser Schutzbrief nicht, sondern nur dessen Verlängerung von 1747. 1810 notiert in Kirchen der Gemeindeschreiber, Julius´ Vater Herz sei aus Dornach gewesen.

Anfang 1738 haben 4 Haushaltsvorstände einen Schutzbrief des Markgrafen, am 13.08.1738 werden 3 Schutzjuden und eine Witwe genannt, außerdem erfahren wir von 5 Knechten. Plus Frauen und Kinder (diese hat man nicht gezählt).

Vier Brüder Bloch (Hirz, Lazarus, David, Seligmann), aus Dornach, und Seligmann Löw, sind die ersten namentlich bekannten jüdischen Einwohner im Dorf Kirchen. Ob diese Bloch´s mit Leibel näher verwandt waren? Wissen wir nicht, könnte sein, vielleicht auch nicht. Anscheinend gab es mehrere Bloch-Familien in Dornach bzw. im Kanton Solothurn. Die meisten Mitglieder dieser Familien scheinen sich im Elsaß niedergelassen zu haben. Eine Ironie der Geschichte: einige der 1396 aus Frankreich vertriebenen jüdischen Familien sind nach Polen emigriert, wurden dort als "Welsch", als französischsprachig bezeichnet. Aus "Welsch" wird "Walch" und "Wolch", daraus polnisch "Wloch". Kriegsgräuel und Massaker 1648 lassen viele jüdische Bewohner Polens gen Westen fliehen. Auch "Wloch" kommen zurück und werden zu "Bloch".

Das Zusammenleben von Juden und Christen ist im 18. und der 1. Hälfte des 19. Jhs. geprägt von vielerlei Querelen, und es ist überschattet von Kriegen und Not. Die jüdischen Familien leben vom Handel - vom Viehhandel die wohlhabenderen, vom Kleinst-Handel die ärmeren. Unvermeidlich kollidiert der jüdische Viehhandel mit den Interessen der christlichen Bauern - Juden dürfen (eigentlich) nur 1 Kuh und 1 Pferd weiden lassen, und die nur am Straßenrand. Juden dürfen die gemeineigenen Weiden nicht nutzen, haben kein Anrecht auf gemeineigene Gärten oder auf gemeineigenes Brennholz. Immer wieder gibt es Zoff und schriftliche Beschwerden. Besonders wortreich 1785, die Zahl der jüdischen Haushalte hat sich seit der Anfangszeit vervierfacht. Auf 8! Skandal! (Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der christlichen Haushalte von 80 auf 150 gestiegen, und man hat sehr viel Weideland in Äcker umgewandelt).

Um 1870 herum ist die Blütezeit der jüdischen Gemeinde mit knapp 200 Mitgliedern. Im späten 19. Jahrhundert beginnt der Niedergang. Kurz nach 1900 leben 31 Familien im Ort, von denen immerhin 14 im Viehhandel tätig sind. Das christlich-jüdische Miteinander hat sich verbessert, im Alltag, bei Festlichkeiten, im reichen Vereinsleben.

Nach jahrzehntelangem Hickhack haben auch die jüdischen Einwohner Badens 1862 die vollen bürgerlichen Rechte erlangt, und dürfen ab jetzt selber frei über ihren Wohnort entscheiden. Die jüdischen Landgemeinden schrumpfen, es lockt die Stadt mit ihren deutlich besseren Existenz-Chancen.

Eine Auflistung der jüdischen Einwohner Kirchens vom 15.04.1936 nennt noch 49 Namen.