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Kirchen, Gutenau - das Ende der jüdischen Gemeinde

Kirchen - Gutenau 19.05.1939
Museum in der "Alten Schule", Inv.-Nr. 1992/0284 (bearbeitet).
Kennkarten 1938/39
Die in Kirchen 1938/39 ausgestellten Kennkarten. Für alle Juden verpflichtend. Gemeindearchiv Efringen-Kirchen, Kirchen VI.1 - 030.
Heimatatlas 1934
Aus: Heimatatlas der Südwestmark Baden (Karlsruhe 1934), S. 44.
Formular-Flut - 03.09.1939
Gemeindearchiv Efringen-Kirchen, Kirchen IX - 039.
Hausrat 1939 - Moses, Robertine
Gemeindearchiv Efringen-Kirchen, Kirchen IX - 038.
Betreten erlaubt - 18.11.1939
Gemeindearchiv Efringen-Kirchen, Kirchen VI.1 - 030.
Sprach-Verwirrung - 05.02.1940
Gemeindearchiv Efringen-Kirchen, Kirchen IX - 039.
Geheim - 28.06.1940
Gemeindearchiv Efringen-Kirchen, Kirchen IX - 039.
Kirchen 1940
Museum in der "Alten Schule", Inv.-Nr. 1994/0240.

Beschreibung

Ein zufälliger Standort - hier ungefähr stand im Mai 1939 ein Fotograf. Kirchen bejubelt den Führer.

Adolf Hitler ist mehrere Male in Ortschaften Efringen-Kirchens gewesen - besonders ausführlich berichten darüber Schulaufsätze, geschrieben am ersten Schultag danach.

Anfang September 1939 beginnt der 2. Weltkrieg. Zugleich endet das jüdische Leben in Kirchen - Kirchen liegt in der gefährdeten "Roten Zone". Die Einwohner müssen ihr Dorf verlassen.


Das Ende einer jüdischen Gemeinde

Ein schmaler Streifen Deutsches Reich, von Aachen bis kurz vor Basel, ca. 400 Kilometer lang und mal 5, mal 10 Kilometer breit. In diesem Gebiet war im Ernstfall mit Gefährdung zu rechnen. Der Ernstfall war der Krieg mit Frankreich, die Gefährdung waren Bomben und Granaten. Die "Rote Zone" am Westwall. Äcker und Wiesen, kleine und große Dörfer, Kleinstädte und Metropolen - auch Lörrach, Efringen-Kirchen, Müllheim lagen zumindest teilweise in diesem Streifen. Schätzungsweise 1 Millionen Menschen lebten in ihr.

Der Ernstfall wird von den Behörden gründlich vorbereitet. Mit Datum 3.9.1939 verschickt das Landratsamt Lörrach Formulare: "Sachbesitz im Freistellungsgebiet" steht darauf. Das Dorf Kirchen erhält 400 Exemplare "Hausrat", 300 Exemplare "Gebäudebesitz", 300 Exemplare Land-/Forst-/Gärtnerei-/Weinbau-Betriebe und 50 Exemplare "gewerblicher Betrieb". Möglichst vollständig auszufüllen vom Haushaltsvorstand. Gebäude, Wohnung, vorhandener Hausrat, Klein- und Großvieh, Handwerkszeug und Betriebseinrichtungen. Besonders wichtig, und immer anzugeben: die Höhe der Versicherungssumme und die Angabe der Versicherungsgesellschaft!


Allein im Dorf Kirchen hat man 1050 Vordrucke verteilt. Hochgerechnet auf die gesamte "Rote Zone" mit mehreren Hunderttausend Haushalten müssen schätzungsweise eine Dreiviertelmillion Blätter gedruckt worden sein. Formulare entworfen, gedruckt, geheim gehalten, an jeden verteilt, von jedem ausgefüllt, von jedem wieder eingesammelt. Eine Mords-Logistik, von langer Hand vorbereitet. Die Exemplare aus dem Kreis Lörrach gehen bis zum 29.09.1939 an das Finanzamt Lörrach, danach an das Finanzamt Singen.

Ab 28.06.1940 geht das Papier wiederum auf Reise: die südbadischen Orte erhalten ihre Formularpakete zurück. Das Gemeindearchiv Efringen-Kirchen verwahrt mehrere Packen aus mehreren Ortschaften. Die Formulare der meisten jüdischen Familien aus Kirchen jedoch fehlen. Sie wurden - irgendwann, irgendwo, von irgendwem - von den "nicht-jüdischen" Formularen getrennt.


Die meisten ausgefüllten Vordrucke sind auf den 3. bzw. 4. September 1939 datiert. Viele wurden (noch) in Kirchen ausgefüllt, andere (schon) andernorts - die Evakuation der "nicht marschfähigen" Bevölkerung der "Roten Zone" hatte begonnen.

Der 3. September 1939. Um 11.30 Uhr hatte Großbritannien, um 17 Uhr Frankreich den Krieg erklärt. Die Generalmobilmachung beider Länder war schon am 1.9. erfolgt, und der 2. September 1939 war für die Menschen in der "Roten Zone" der Stichtag X.

Seit Mitte 1938 hatten die Partei, das Militär und unterschiedlichste Stellen und Behörden daran gefeilt, im Falle eines Krieges an der Westfront die Bewohner in Sicherheit zu bringen. Auch aus purem Eigennutz: Truppenaufmarsch in Richtung Westen + ungeordneter Flüchtlingsstrom in Richtung Osten = Chaos pur.

Jetzt aber: im letzten Moment alles anders als geplant. Nicht alle Bewohner der "Roten Zone", sondern nur die "nicht Marschfähigen" (Familien mit kleinen Kindern, Alte, Kranke und Behinderte) sollten gehen - man hat sie abtransportiert, an Sammelstellen gebracht und - zum Teil erst nach Wochen - in die vorgesehenen "Bergungsgebiete" in Württemberg oder Bayern verbracht. Die "Marschfähigen" hätten Kolonnen und Wagentrecks bilden und sich zu Fuß auf den Marsch machen sollen. Ob oder ob nicht und falls ja, wie viele "marschfähige" Bewohner der "Roten Zone" diese tatsächlich verlassen haben - die Angaben hierzu sind widersprüchlich. Vor Ort wusste man jedoch sehr wohl die Zeichen zu deuten, und ein Flüchtlingsstrom ergoß sich in Richtung Osten.

In den "Bergungsgebieten" trafen überwiegend Frauen, Kinder, Alte, Gebrechliche ein. Niemand hatte die Bevölkerung vorab informiert - weder die Abtransportierten noch ihre potentiellen Gastgeber waren auch nur im Mindesten vorbereitet. Viele Transporte kamen nicht da an, wo sie sollten; oft wurden die Leute von ihrem Gepäck getrennt. Mit Kuddelmuddel und Improvisation ging es weiter. Die Unterbringung und Verpflegung zahlloser "Rückgeführter" war unsäglich.

Auch die jüdische Bevölkerung verlässt die "Rote Zone". Viele ihrer nicht-jüdischen Nachbarn kehren (illegal) ab Spätherbst 1939 zurück; im Dezember 1939 wird die "Rote Zone" offiziell zur "Wiederbesiedlung" freigegeben. Ein Sonderzug sollte am 22.12.1939 zahlreiche Evakuierte aus dem Allgäu zurück in den Kreis Lörrach bringen; der Zug verunglückte bei Markdorf. Über 100 Menschen starben.


Mitte Mai 1940 kam es in den Ortschaften Efringen-Kirchens zu Beschuß durch französische Artillerie. In Istein starben einige Personen im Keller ihres Hauses, daraufhin entschied man am Abend des 20.05.1940, die Orte Istein, Kleinkems, Rheinweiler, Bamlach und Bellingen zu räumen. Die gesamte Bevölkerung mußte die Dörfer verlassen. Am 25.05. folgte dann die Räumung von Efringen und von Kirchen.

In Kirchen gab es große Schäden, der Nachbarort Haltingen wurde fast völlig zerstört. Angeblich war (so die Neubauleitung Wiederaufbau Haltingen in einem Schreiben vom 17.07.1941) auch die Kirchener Synagoge ein Totalschaden. Auf den Fotos von 1940 ist davon allerdings nichts zu sehen.


Spätestens am 1. Juli 1940 sind die nicht-jüdischen Kirchener wieder da - ihre jüdischen Nachbarn nicht. Um die Behebung der Schäden kümmern sich die Hausbesitzer bzw. die Neubauleitung Wiederaufbau. Um die Häuser in jüdischem Besitz kümmert sich der Bürgermeister. Viele Häuser werden nicht wieder aufgebaut.

Am 12.08.1940 schreibt der Kreisleiter der NSDAP Lörrach an den Landrat: "Die aus Efringen rückgewanderten Juden halten sich zum größten Teil in Konstanz auf. Ich bitte zu erwägen, ob denselben die Rückkehr in den Heimatort nicht untersagt werden kann." Dem Ersuchen wird stattgegeben.


Mit der Evakuierung am 3./4. September 1939 findet die jüdische Gemeinde von Kirchen ihr Ende. Am 22.10.1940 werden die Kirchener Juden in ihren Evakuations-Orten abgeholt und nach Gurs deportiert. Fast niemand überlebt.


Im November 1940 bricht das Schnäppchenfieber aus: es beginnen die Versteigerungen jüdischer Habe, direkt aus den Fenstern der verlassenen Häuser heraus. Mindestens 9 Versteigerungen in Lörrach, in der Tagespresse beworben, Fotografien zeigen sich drängende Menschenmassen. In Kirchen ist zumindest eine Versteigerung aktenkundig (die Besitztümer von Samuel Moses I. und Rosa Moses geb. Braunschweig, 1941).

 

(Text: Museum in der ‘Alten Schule’ / Dr. Maren Siegmann / 2024)