Station: [6] Die „Aktion T4“
M: „Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte. Es begann mit der Akzeptanz der Einstellung, das[s] es bestimmte Menschenleben gibt, die nicht wert sind, gelebt zu werden. Diese Einstellung umfasste in ihrer frühen Ausprägung die ernsthaft und chronisch Kranken. Allmählich wurde der Kreis derjenigen, die in diese Kategorie einbezogen wurden, ausgeweitet auf die sozial Unproduktiven, die ideologisch Unerwünschten, die rassisch Unerwünschten ... es ist wichtig zu erkennen, dass die unendlich kleine Eintrittspforte, von der aus, diese ganze Geisteshaltung ihren Lauf nahm, die Einstellung gegenüber unheilbarer Krankheit war.“
F: Mit diesen Worten charakterisiert der Psychiater Leo Alexander das „Euthanasie-Verständnis“ im Nationalsozialismus. Während des Nürnberger Ärzteprozesses in den Jahren 1946 und 1947 fungierte Alexander als Berater des US-amerikanischen Chefanklägers und formulierte den sogenannten Nürnberger Kodex – eine zentrale, heute noch angewandte ethische Richtlinie, wenn es um medizinische oder psychologische Experimente am Menschen geht. Im Oktober 1939 hatte Adolf Hitler dem Reichsleiter Philipp Bouhler sowie seinem Leibarzt Karl Brandt den schriftlichen Auftrag erteilt …
M: „die Befugnisse, namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankenzustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“
F: Unter der Chiffre „Aktion T4“ wurden zwischen Januar 1940 und August 1941 mehr als 72.000 Menschen mit psychischer Erkrankung oder einer geistigen oder körperlichen Behinderung systematisch ermordet. Aber auch „sozial Entartete“ oder Angehörige „nicht-arischer“ Bevölkerungsgruppen wurden Opfer dieser Euthanasie-Morde.
M: Die Leitungen der Krankenanstalten und psychiatrischen Einrichtungen wurden aufgefordert, alle volljährigen Patienten aufzulisten und zu melden. In Berlin wurden diese Meldebögen durch drei ärztliche Gutachter geprüft. Wurde ein Kreuz auf dem Meldebogen vermerkt, bedeutete das die Ermordung der betreffenden Person. Die Gutachter entschieden dabei über Leben und Tod, ohne die Opfer auch nur ein einziges Mal gesehen oder untersucht zu haben.
F: In unauffälligen, grauen Bussen wurden die Patienten abgeholt und in besondere „Krankenanstalten“ gebracht – nach Bernburg im heutigen Sachsen-Anhalt, Grafeneck im heutigen Baden-Württemberg, Hadamar in Hessen oder Sonnenstein in Sachsen. Dort wurden sie in eigens errichteten Gaskammern getötet.
M: Das Verfahren der Gaskammern wurde später in den Vernichtungslagern übernommen. Mitarbeiter der „Aktion T4“ waren maßgeblich an der Planung und dem Aufbau der entsprechenden Konzentrationslager beteiligt.
F: In Wehnen wurden die Patienten nachweislich schon lange vor Hitlers Erlass systematisch ermordet. Doch aus der Heilanstalt wurde niemand abtransportiert. Dieser Umstand diente später als Argument, in Wehnen sei niemand der NS-Euthanasie zum Opfer gefallen.
Foto: © Graf von Galen: aus der Bildersammlung des Bistumsarchivs Münster. Urheber: Gustav Albers.