Station: [100] Mahnmal


F: „Die Schwachen und Kranken zu schützen ist die Würde der Gesunden“. So lautet die Inschrift dieses Mahnmals. Es wurde im September 2001 enthüllt. Der Psychiater und Soziologe Professor Klaus Dörner hielt damals eine Rede, die für viel Aufsehen und Resonanz sorgte. Hier einige Auszüge davon.

M: Es tut weh und erfüllt mich zugleich mit Scham und Dank, dass es hier in Wehnen meines Wissens zum ersten Mal Sie, die Angehörigen der psychiatrischen NS-Verfolgten, waren, die Sie die Kraft gefunden haben, zusammenzufinden und lange dafür zu kämpfen, dass hier und heute (…), die Erinnerung an die Opfer der psychiatrischen NS-Verbrechen äußeren und bleibenden Eindruck findet. Mit Scham vor allem, weil sie mit mir einen Psychiater gebeten haben, hier zu sprechen, obwohl der Anlass mir nur gebieten kann: zu schweigen.

Um sprechend, also hörbar, zu schweigen, versuche ich, mit mir selbst ins Gespräch zu kommen, und bitte Sie, dem Bekenntnis meiner Scham zuzuhören, wie ich mich meiner selbst, der Psychiater und der Psychiatrie schäme.

Ich klage also mich, die Psychiater und die Psychiatrie an, dass wir schon Ende des 19. Jahrhunderts die Überfüllung der Anstalten und die Lebenslänglichkeit der Unterbringung der chronisch psychisch Kranken zugelassen haben, obwohl wir wussten, dass die Einengung des zugebilligten Raumes und die Länge der verhängten Unterbringungszeit Wert und Würde jedes Einzelnen verringern, ja existenziell bedrohen.

Ich klage an, dass wir um dieselbe Zeit eugenisch-präventiv damit begonnen haben, um des Ideals einer „leidensfreien Gesellschaft“, einer Menschheitsverbesserung willen psychisch Kranke und geistig Behinderte nicht mehr bedingungslos anzunehmen, sondern sie von vornherein unter dem Aspekt der Optimierung, Vermeidung oder Abschaffung zu bewerten.

Ich klage an, dass wir im Ersten Weltkrieg die Ermordung von 70.000 Menschen in Anstalten und Krankenhäusern durch Verhungernlassen teils zugelassen, teils angestrebt haben, entweder obwohl oder weil uns der Zusammenhang zwischen Hungerkost und Sterblichkeit bewusst war.

Ich klage uns schließlich an, dass wir auch heute noch einerseits (…) weiterhin ziemlich einverstanden zu sein scheinen, dass andere Menschen schnell unter dem Aspekt der Verbesserung, Vermeidung oder Abschaffung in Frage gestellt statt kategorisch in ihrem Sosein angenommen, geachtet und geschützt werden; und andererseits scheinen wir weiterhin damit gut schlafen zu können, als ob uns dies nichts angehe dass mehr als 100.000 chronisch psychisch kranke und geistig Behinderte (…) als Heimbewohner in ihren Bürger- und Menschenrechten beschnitten werden, obwohl sie – was jeder weiß – mit ambulanter Hilfe in ihrer Heimatgemeinde leben könnten.

Ich kann also nur mit zwei Wünschen schließen: Möge einmal dieses Mahnmal auch diese Anklage, die immer zuerst Selbstanklage ist, dauerhaft wirksam machen; und mögen Sie, die Angehörigen der NS-Opfer, zu mir und meinesgleichen weiterhin nicht nachsichtig sein; denn ohne diese Hilfe würden wir (…) verloren sein, würden, um in der Sprache des Mahnmals zu sprechen, nicht zu der „Würde der Gesunden“ finden, die darin besteht, „die Schwachen und Kranken zu schützen“.

Foto: © Gedenkkreis Wehnen e.V.