Station: [2] Woher das Kloster seinen Namen hat


Hallo? Hallo? Immer noch niemand da. Echt seltsam! Und irgendwie unheimlich. Irgendwie beschleicht mich langsam das dumme Gefühl, dass hier etwas schiefgelaufen ist… vorhin… als ich beim Fangenspielen gestolpert bin.

Denn normalerweise ist hier alles voll mit Mädchen. Aber jetzt… ist hier nur… Gra-bes-stille! Na ja, passt ja irgendwie... Heiligen-Grabes-Stille… Wenn du dich hier so überhaupt nicht auskennst, dann weißt du bestimmt auch nicht, warum Heiligengrabe Heiligengrabe heißt, nicht wahr? 

Also, ich erklär’s dir. Das war hier ja früher ein Kloster. Und deswegen gibt es zwei Kirchen auf dem Gelände:

die große Stiftskirche, die an die Abtei angebaut ist. Und direkt gegenüber:

die freistehende Kapelle. Die ist ein bisschen kleiner, aber eigentlich auch noch ziemlich groß. Und in der Kapelle drinnen, da gibt es ein… ja, genau! Ein… tiefes, tiefes Grab. Nein, keine Angst! Kein echtes Grab. Da liegt niemand drinnen.

Sondern das Grab von einer Hostie, also einem dieser kleinen, runden Dinger, die man beim Abendmahl im Gottesdienst bekommt. Und um diese Hostie rankt sich eine alte Geschichte. Die ist – wenn du mich fragst – ziemlich übel und verleumderisch. 

Ich erzähl‘ sie dir: Irgendwann am Ende des Mittelalters, da soll ein Mann in eine Dorfkirche ganz in der Nähe von hier eingebrochen sein. Angeblich hat er eine Hostie gestohlen. Die Hostie, das musst du wissen, ist ja der Leib Christi und wird deswegen von den Christen sehr verehrt. Und dieser Mann, der Jude war, der wollte angeblich auch so eine Hostie haben. Wozu? Keine Ahnung!

Und jetzt wird es richtig verrückt: Die Hostie war nicht einverstanden, einfach so geraubt zu werden. Also hat sie angefangen zu bluten. Und der Mann hat Angst gekriegt und sie vergraben. So ist das Grab hier entstanden: das Grab der heiligen Hostie.

Aber das Vergraben hat nichts genützt, der Mann wurde ertappt und festgenommen und mit dem Tode bestraft. Und die Hostie hat angefangen, Wunder zu tun und deswegen ist das Kloster gegründet worden – das Kloster Heiligengrabe… über dem Grab der heiligen Hostie.

Eine ziemlich haarsträubende Geschichte! Und die glaubt heute sowieso niemand mehr. Denn ich frage mich: Wenn der arme Mann Jude war, dann hat er sich doch für die Hostie gar nicht interessiert. Die Juden glauben nicht an Christus und an die Verwandlung des Leibes Christi. Warum hätte er sich also für die Hostie interessieren sollen? Und warum wurde er gleich getötet? Alles ziemlich brutal und nur weil einer fremd ist und etwas anders aussieht oder einer anderen Religion angehört als die anderen Leute… nur deswegen braucht man ihm doch nicht gleich so eine Geschichte anzudichten! Das ist unfair… ich würde ihm jedenfalls erstmal zuhören, wenn er mir etwas über seinen Glauben erzählt, anstatt ihn gleich zu verdammen oder der Lüge bezichtigen – oder noch schlimmer: ihm einen Diebstahl zu unterstellen und hinzurichten! Aber zum Glück ist die Geschichte ja bloß eine Erfindung – wenn auch keine besonders schöne. Denn diese Lügengeschichten haben den wenigen Juden, die es damals im 16. Jahrhundert in Brandenburg gab, das Leben ziemlich schwer gemacht…

Aber immerhin hat das Kloster auf diese Weise seinen Namen bekommen. Und das angebliche Grab, das gibt es noch immer, in der Kapelle.

Soll ich dir mal zeigen, wie sie von innen aussieht? Auf der Längsseite der Kapelle findest du ziemlich in der Mitte eine Tür. Die müsste offen sein und durch die kommst du in die Kapelle hinein.

Abbildung 1 © Lorenz Kienzle
Abbildung 2 © Dietmar Rabich
Abbildung 3 © Dietmar Rabich