Station: [5] Unglaublich…


Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. …

Huch!

Ist da… jemand?

Nichts?

Aber ich habe doch… habe ich nicht etwas gehört? Ein Geräusch? Schritte?

Hallo?

Ach, Sie sind es… also ihr… du… Also… wer seid ihr denn? Wie die finsteren Aufseher hier im Straflager seht ihr ja nicht aus. Vor denen muss ich mich nämlich höllisch in Acht nehmen. Die können hier zu jedem Moment und zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit auftauchen. Und wenn die dann mitkriegen, dass ich heimlich in der Bibel lese… dann ist meine Bibel ganz schnell konfisziert und ich sitze wieder drei Tage lang im Kerker… ohne Fenster, ohne Ofen und manchmal bekomme ich nicht einmal etwas zu essen.

Ja, das Leben in so einem sibirischen Strafgefangenenlager ist kein Zuckerschlecken. Ich werde behandelt wie ein Schwerverbrecher. Und dabei bestand mein einziges Verbrechen darin, an meinen Gott zu glauben. Die neuen Machthaber sind der Meinung, dass Religion etwas Schlimmes und Verwerfliches ist und die Befreiung der Arbeiterklasse verhindert. Und deshalb haben sie die Kirchen geschlossen und zerstört. Und die Priester und Kirchendiener eingeschüchtert, verhaftet, gefoltert und – wie mich – nach Sibirien verschleppt. 

Hier sitze ich nun schon seit Jahren und habe nur einen Trost: meinen Glauben. Natürlich ist es streng verboten, eine Bibel zu besitzen oder darin zu lesen. Aber ein wohlmeinender Mitgefangener der hat mir eine verschafft. Und zwar eine ganz besondere: Ihre Seiten sind aus Kunststoff, unkaputtbar sozusagen.

Wenn dann einer der Aufseher kommt oder wenn es plötzlich Appel gibt… platsch… dann lasse ich die Bibel einfach in meinen Tee oder meine Suppe fallen. Und schon ist sie verschwunden. So wie gerade, als ihr mich erschreckt habt.

Und kaum bin ich wieder allein, kann ich sie in aller Ruhe wieder aus dem Tee hinausfischen.

Hmm… wo ist sie denn? Ich habe sie doch gerade … Ah! Da ist sie ja. Wohlbehalten und gut lesbar. So kann ich mich gleich wieder in sie vertiefen. Vielleicht erhört mein Gott mich ja und holt mich aus diesem furchtbaren Straflager hinaus. Da kann ich nur hoffen!

Aber… vielleicht könntet ihr ja einen Moment aufpassen, dass niemand kommt? Schmierestehen sozusagen. Damit ich wenigstens noch meinen Psalm zu Ende beten kann? Das wäre sehr nett von euch!

Wo… war ich stehen… hier: … und führet mich zum frischen Wasser. … Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir…

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Ps. 23, 1.2.4a – zitiert nach Luther 2017.

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