Station: [4] Der Roman Lichtenstein
Unter den vielen Sagen, die von ihrem Lande und von der Geschichte ihrer Väter im Munde der Schwaben leben, ist wohl keine von so hohem romantischen Interesse, als die, welche sich an die Kämpfe der eben erwähnten Zeit, an das wunderbare Schicksal jenes unglücklichen Fürsten knüpft. Wir haben versucht, sie wiederzugeben (…), auch auf die Gefahr hin, verkannt zu werden. Man wird uns nämlich entgegenhalten, daß sich der Charakter Ulerichs von Württemberg nicht dazu eigne, in einem historischen Romane mit milden Farben wiedergegeben zu werden.
Wilhelm Hauff scheint es in seinem Vorwort wohl schon geahnt zu haben. Seine Hauptfigur eignet sich nur bedingt zum Vorzeige-Helden. Im Roman „Lichtenstein“ erscheint Ulrich von Württemberg edel, weise und gerecht, ja quasi als Prototyp des guten Herrschers.
Im echten Leben war der gute Ulrich jedoch genau das Gegenteil: Er war seiner Frau untreu, ständig in Geldnot, zeitweise war er sogar geächtet. Er ging brutal gegen sein eigenes Volk vor, ließ politische Gegner foltern und schreckte auch nicht davor zurück, selbst zum Mörder zu werden. Ausgerechnet dieser Ulrich soll nun Held dieser „romantischen Sage“ sein? Hauff schreibt zu seiner vermeintlichen Verteidigung:
Man hat ihn vielfach angefeindet, manches Auge hat sich sogar daran gewöhnt, wenn es die langen Bilderreihen der Herzöge Württembergs mustert, (...), als seye das Unglück eines Landes nur allein in seinem Herrscher zu suchen, oder als seye es verdienstlich, das Auge mit Abscheu zu wenden von den Tagen der Noth.
1519 bricht der Herzog den sogenannten Tübinger Vertrag – sozusagen die württembergische Verfassung. Sie garantiert den Landständen gewisse bürgerliche Freiheiten und Mitspracherecht. Aber Ulrich geht noch weiter: Er überfällt die Reichsstadt Reutlingen – und provoziert damit eine Kriegserklärung des Schwäbischen Bundes. So stellt sich die historische Ausgangslage im Jahr 1519 dar.
Glaubt man der Legende, dann sucht Ulrich in jener Zeit mehrmals Schutz auf dem Lichtenstein und der nahe gelegenen Nebelhöhle. Eine Legende, die auch Wilhelm Hauff kennt und die zur Grundlage seines historischen Romans werden sollte.
Dass die historische Wahrheit im Buch vernachlässigt wird, tut dem Erfolg des Romans jedoch keinen Abbruch. Im Gegenteil. Wilhelm Hauff trifft mit dem „Lichtenstein“ voll den Zeitgeist des 19. Jahrhunderts: ein mittelalterlicher Stoff, gespickt mit heimatlichen Sagen, volkstümlichen Figuren und einer romantisierenden Darstellung der Landschaft.
Der Leserschaft wird die Aktualität des Romans dabei wohl nicht entgangen sein. Hat er doch Bezüge zu ihrer eigenen Gegenwart: Einige Jahre zuvor hatte nämlich der württembergische König die Verfassung des Landes aufgehoben und damit einen erbitterten Verfassungskampf ausgelöst. 1819 konnte der Streit beigelegt werden, eine neue Verfassung trat in Kraft, in der sich altständische Rechte und moderne konstitutionelle Ideen verbanden.
Alle Abbildungen: © Wilhelm-Hauff-Museum