Station: [113] Pietà und Vesperbildkapelle St. Aegidius
Ein Moment tiefer Trauer und inniger Verbundenheit: Die Gottesmutter trauert und hält ihren vom Kreuz genommenen Sohn auf den Knien. Die Darstellung dieses schmerzvollen Moments ist ein uralter Topos der christlich-abendländischen Kunst – „Pietà“ oder „Vesperbild“ genannt.
Die Wiedenbrücker Pietà im Stil der Spätgotik stammt aus dem Jahr 1520. Erst vor einigen Jahrzehnten konnte sie dem Münsteraner Bildhauer Evert van Roden zugeschrieben werden. Evert lebte und arbeitete zu Beginn des 16. Jahrhunderts und gilt als einer der herausragenden Künstler dieser Zeit. Seine Altäre, Epitaphien und vor allem seine Figuren schmücken die Kirchen in ganz Westfalen bis hin zur Ostseeküste.
In seiner Pietà setzt er das schmerzliche Geschehen eindrücklich in Szene: Der tote Christus scheint fast schwerelos auf dem Schoß seiner Mutter zu liegen. Ihre Hände halten seine rechte Schulter und seinen linken Arm, ohne erkennbare Anstrengung. In ruhiger Gefasstheit beugt sie sich über den Leichnam, ihre Mimik spiegelt Verzweiflung und Liebe wider.
Die Expressivität in der Darstellung der Gefühle, die schönen Formen und die ausgewogene Gesamtkomposition dürften auch die Künstler der Wiedenbrücker Schule beeindruckt haben, die im späten 19. Jahrhundert Altäre und Kircheneinrichtungen im Stil der Neu-Gotik schufen. Everts Pietà bot ihnen reichlich Anschauungsmaterial für ihre eigenen, expressiven Werke.
Die neugotische Kapelle, die die Figurengruppe seit 1871 beherbergt, stammt aus der Werkstatt eines Meisters der Wiedenbrücker Schule: Johann Franz Goldkuhle, ein Spross einer der erfolgreichsten Wiedenbrücker Künstlerfamilien, fertigte sie nach den Entwürfen des Paderborner Dombaumeisters Arnold Güldenpfennig. Die Kapelle ersetzte 1871 einen in die Jahre gekommenen Vorgängerbau.
In dieser Zeit lebte die christliche Dichterin Luise Hensel direkt hier am Marktplatz, in einem heute nicht mehr erhaltenen Haus. Sie verewigte die Pietà, die sie aus dem Fenster ihres Zimmers sah, in einem ergreifenden Gedicht. Die Gedenktafel für Luise Hensel und den entsprechenden Audiokommentar finden Sie, wenn Sie wenige Schritte nach rechts gehen.
Luise Hensels Gedicht „Vor dem Vesperbilde“ von 1859 hören Sie, wenn Sie jetzt die Nummer 113.1 auf Ihrem Smartphone anwählen.
Alle Abbildungen : Torsten Nienaber, © Wiedenbrücker Schule Museum