Station: [15-1] Auszug aus Lion Feuchtwangers „Die Geschwister Oppermann" [15-1]


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Des Nachmittags dann saßen sie auf einer kleinen Rasenböschung am Seeufer, in der Sonne, und Doktor Bilfinger erzählte. Er war im Schwäbischen gewesen, auf einem Gut, das er einmal erben sollte, in der Nähe von Künzlingen, bei seinem Onkel, dem Senatspräsidenten von Daffner. Am 25. März nun war er nach dem Orte Künzlingen gefahren, um Geld von der Bank zu beheben. Er hatte mitangesehen, wie völkische Truppen unter Führung des Standartenführers Klein aus Heilbronn den Ort besetzten, die Synagoge umstellten, den Gottesdienst – es war ein Samstag – unterbrachen. Sie trieben die Männer aus der Synagoge und schlossen die Frauen dort ein, ohne ihnen zu sagen, was weiter mit den Männern geschehen werde. Die Männer brachten sie aufs Rathaus und untersuchten sie „auf Waffen“. Warum die Männer zum samstäglichen Gottesdienst in die Synagoge Waffen mitgenommen haben sollten, blieb unerfindlich. Wie immer, es wurde jeder einzelne mit Stahlruten und Gummiknüppeln geschlagen, sodaß die meisten, als sie das Rathaus verließen, erbärmlich ausschauten.

Ein Siebzigjähriger, ein gewisser Berg, starb am gleichen Tag; am Herzschlag erklärte man später. Der Bürgermeister riet den Juden, die zumeist sehr beliebt waren, sie möchten Künzlingen sogleich verlassen, er könne für ihre Sicherheit nicht einstehen. Aber nur wenige konnten seinen Rat befolgen, die meisten mußten das Bett hüten.

Ihn, Bilfinger, habe das Geschehene aufgerührt, und er sei, begleitet von seinem Onkel, dem genannten Herrn von Daffner, in die Landeshauptstadt Stuttgart gefahren und dort bei dem stellvertretenden Polizeiminister vorstellig geworden. Der, ein gewisser Doktor Dill, rief sogleich den Bürgermeister von Künzlingen an. Der Bürgermeister, sich windend, gab bald die Vorgänge zu, bald bestritt er sie. Die Völkischen nämlich hatten gedroht, jeder, der etwas von den Mißhandlungen laut werden lasse, werde daran glauben müssen. Der Minister, um Klarheit zu schaffen, schickte, unter der Führung der Polizeiräte Weizenäcker und Geißler, die Stuttgarter Mordkommission nach Künzlingen.

Diese Kommission stellte fest, daß Bilfingers Bericht hinter der Wahrheit weit zurückblieb. Aber die Untersuchung hatte die einzige Folge, daß einer der Völkischen auf vier Tage in Untersuchungshaft gehalten und der Standartenführer Klein aus Heilbronn strafweise zu einer anderen Standarte versetzt wurde. In der führenden Stuttgarter Zeitung lautete der Bericht über die Vorgänge folgendermaßen: „In der Nähe von Mergentheim wurden eine Anzahl Einwohner auf Waffen untersucht. Bei der Durchsuchung sollen einige nicht gutzuheißende Mißhandlungen vorgekommen sein, weshalb einer der Untersucher festgenommen wurde.“

Er sei Jurist, fuhr Bilfinger fort, gelernter, passionierter Jurist, und ihn habe es gekratzt, daß Handlungen, die so offensichtlichen gegen klare Paragraphen des Reichsstrafgesetzbuches verstoßen, nicht bestraft werden sollten. Er habe sich weiter umgeschaut in der Gegend zwischen Mergentheim, Rothenburg und Crailsheim. Authentisches Material zusammenzukriegen, sei nicht leicht; denn die Mißhandelten seien arg verschüchtert, einige verschreckt bis an den Rand des Irrsinns. Man habe sie bedroht, auch ihre Frauen und Kinder: wenn sie nur einen Muckser täten, werde man sich zu rächen wissen. Jetzt ließen einen die Leute nicht heran, weigerten sich mit verstörten Gesichtern, irgend etwas auszusagen. Trotzdem habe er Verwundete zu sehen bekommen, auch vernehmen können, er habe glaubwürdige Augenzeugen gesprochen, Beamte der Staatspolizei, Ärzte der Mißhandelten, habe Photos gesehen. Soviel stehe fest: es haben in dieser Gegend Störungen der öffentlichen Ordnung stattgefunden, organisierte Pogrome, der Tatbestand des Landfriedensbruchs ist zweifelsfrei gegeben.

 

Auszug aus: Lion Feuchtwanger. Geschwister Oppermann, Roman
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1956, 2008

Foto:  © Jüdisches Museum Creglingen, Fotograf: Oleg Kuchar