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Luise Hensel: Vor dem Vesperbilde
Seh‘ ich dir im Schoß die bleiche
Blutgefärbte Gottesleiche
Mit den Wunden ohne Zahl,
Wag‘ ich nicht, den Blick zu heben,
muß in tiefer Brust erbeben,
Fühle Scham und Reuequal.
Denn ich bin’s, die ihn geschlagen,
Bin der Grund von deinen Klagen,
Von der namenlosen Qual,
Die dein reines Auge rötet;
Denn ich habe ihn getötet –
Weh! mit Sünden ohne Zahl!
Schmerzensmutter! Reine! Milde!
Ja, ich will vor deinem Bilde
Laut bekennen den Verrat.
Wollt‘ ich meine Schuld verschweigen,
müssten selbst die Steine zeugen
Wider meine Missetat.
Wisse: dreiundreißig Jahre
Liebte mich der Wunderbare,
Er, dein Sohn und Gottes Sohn;
Hat um mich gedient, gelitten,
Wider meinen Feind gestritten,
Und – mein Undank war sein Lohn.
O, wie hat er treu geliebet!
Hat sich in den Tod betrübet,
Weil ich Liebe ihm versagt!
Ist in bittrer Schmach gestorben,
Hat mit Blut um mich geworben,
Ach, um mich, die ärmste Magd. –
Doch fortan nun dir zu Füßen
Will ich mit dir weinen, büßen,
Daß ich dir erschlug den Sohn.
Woll’st, o Milde! für mich flehen,
Daß gesühnt ich möge stehen
Selig einst vor seinem Thron.
Wiedenbrück, 1859
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Winfried Freund, Müde bin ich, geh zur Ruh: Leben und Werk der Luise Hensel, Rheda-Wiedenbrück 1984, Seite 134/135.
Alle Abbildungen : Torsten Nienaber, © Wiedenbrücker Schule Museum